Ständige Erreichbarkeit: wie das Nervensystem unter digitalem Dauerdruck steht
Blog |13.11.2025 | Thomas Ammich
Ein kurzes Vibrieren. Ein aufleuchtender Bildschirm. Kleine Signale, die oft kaum bewusst bemerkt werden und doch ihre Wirkung entfalten. Vor mir sitzt eine Klientin, Mitte dreißig, viel Verantwortung im Beruf, im Alltag immer Vollgas. Sie beschreibt Erschöpfung, Schlaflosigkeit und das Gefühl, selten wirklich zur Ruhe zu kommen. Während sie spricht, blinkt ihr Smartphone zweimal auf. Sie reagiert nicht darauf, doch ihr Körper tut es: eine leichte Anspannung in den Schultern, ein kurzer Fokus Verlust. Diese Momente erscheinen unbedeutend. Doch unser Nervensystem registriert jeden einzelnen Reiz und bleibt so permanent in Bereitschaft.
Oft beginnt der Stress nicht mit großen Ereignissen, sondern mit vielen kleinen Unterbrechungen.
Warum digitale Reize so viel auslösen können
Jede Benachrichtigung löst in unserem Gehirn einen sehr schnellen Prüfprozess aus. Die Amygdala, unser emotionales Alarmsystem, bewertet: "Ist das wichtig?" Das reicht aus, um körperliche Reaktionen auszulösen. Minimal, aber häufig: ein etwas schnellerer Herzschlag, eine veränderte Atmung, eine kurze Verengung unseres Fokuses. Die Amygdala unterscheidet dabei nicht zwischen einer E-Mail, einem Social Media Like oder einem unerwarteten Geräusch im Dunkeln. Alles wird geprüft. Alles kostet ein wenig Energie. Im Laufe der Zeit entsteht dadurch eine Form von innerer Unruhe, obwohl äußerlich alles scheinbar normal funktioniert.
Ein Dienstag, 8:47 Uhr
Der Kaffee steht bereit. Das Handy liegt daneben.
8:47: WhatsApp
8:51: Terminerinnerung
8:53: Like
8:56: Newsletter
9:02: Kalenderhinweis
9:08: Teams Benachrichtigung
Insgesamt werden es elf Reize in zwanzig Minuten. Kein Drama, keine Dringlichkeit. Doch jeder einzelne wird verarbeitet. Unser Alarmsystem reagiert jedes Mal.
Wenn die Amygdala vorausläuft
Bei einer hohen Reizdichte reagiert unsere Amygdala oft als erstes. Unser präfrontaler Kortex, zuständig für Überblick, ruhiges Denken und Selbststeuerung, kommt erst verspätet zum Einsatz.
Viele Menschen berichten dann von:
- schnellerer Reizbarkeit
- impulsiveren Reaktionen
- einem Gefühl, innerlich weniger stabil zu sein
- Schwierigkeiten, gedanklich "bei sich" zu bleiben
Ständige Erreichbarkeit verändert unseren inneren Zustand. Nicht laut, aber deutlich.
Was dem Nervensystem wieder Raum gibt
Es braucht keine langen Digitalpausen und auch keinen kompletten Verzicht auf Technik. Oft sind es wenige bewusst gestaltete Momente, die den inneren Druck spürbar reduzieren:
Mahlzeiten ohne Handy
Essen in Ruhe, ohne Nachrichten, ohne E-Mails, ohne Scrollen. Ein kurzer Abschnitt des Tages, der frei von digitalen Reizen bleibt und unserem Nervensystem eine spürbare Entlastung ermöglicht.
Kurze Wege ohne Blick aufs Handy
Vom Schreibtisch zur Küche. Vom Auto zur Haustür. Diese Übergänge ohne Handy zu gehen, schafft reizarme Räume im Alltag.
Ein ruhiger Start in den Morgen
Nicht direkt nach dem Aufwachen auf das Handy reagieren. Ein Moment ohne äußere Impulse hilft unserem Nervensystem, stabil in den Tag zu kommen.
Kurzes Warten ohne Ablenkung
An der Kasse, vor einer Ampel, im Treppenhaus. Ein paar bewusste Atemzüge reichen aus, um den inneren Rhythmus zu regulieren.
Pausen zwischen Terminen
Nach Gesprächen oder Meetings kurz sitzen bleiben, ohne sofortige Reaktion auf neue Signale. Diese kleinen Zwischenräume geben unserem präfrontalen Kortex wieder mehr Führung.
Souverän statt dauerhaft erreichbar
Ein paar Wochen später erzählt die Klientin, dass sie diese kleinen Momente bewusst in ihren Alltag integriert hat. Nichts Großes. Keine radikalen Veränderungen. Aber ihr innerer Zustand hat sich spürbar verändert. "Es sind die gleichen Nachrichten", sagt sie, "aber ich lese sie nicht mehr aus derselben Anspannung heraus." Ruhiger zu reagieren entsteht nicht durch Reizvermeidung, sondern durch bewusste Steuerung.
In einer Welt voller digitaler Impulse bedeutet Souveränität: erreichbar zu sein, ohne im dauerhaften Alarmmodus festzuhängen.


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